Vor mehr als 40 Jahren verlor Les Baugh aus Colorado (USA) bei einem Unfall beide Arme. Seither kann er nur mit großer Mühe oder mit der Hilfe seiner Lebenspartnerin die Handgriffe des Alltags erledigen. Vergangenen Dezember aber bot ihm das Johns Hopkins Applied Physics Laboratory in Maryland an, die erste Versuchsperson einer revolutionären Pilotstudie zu sein. Eine Studie, die ihm zwei neue Arme verpassen sollte.

Dazu unterzog sich Baugh einer sehr speziellen Operation. Chirurgen verlagerten die gekappten Nervenenden aus den Stümpfen seiner Arme in seine Brust. Die nutzlosen Nerven sollten dort in die Muskulatur und die darüber liegende Haut einwachsen. Denn auch 40 Jahre nach seinem Unfall schickt Baughs Bewegungszentrum im Gehirn treu Bewegungsanweisungen für die Arme durch diese Nerven. Nur finden sie kein Ziel. Das sollte die Operation ändern.

Nach dieser TR-Operation (steht fürTargeted Reinnervation) können Nervenenden, die einst die Muskeln einer Gliedmaße steuerten, stattdessen andere Muskeln bewegen. In Baughs Fall: die Brustmuskeln. Sensoren auf der Haut können dann die Aktivitätsmuster der neu angeschlossenen Muskeln auffangen.Ein Team rund um Todd Kuiken entwickelte die Operationstechnik am Rehabilitation Institute in Chicago. Das Ziel war es, mit den neuen Muskel-Befehlen eine Prothese zu steuern.

Sechs Monate lang mussten Baughs Brustgewebe und sein Armstrumpf heilen. Die Nervenenden mussten aussprießen, ihre neue Heimat erkunden und ihre neuen Ziele in den Muskeln und der Haut finden. Dann war es so weit: Baugh konnte seine Brustmuskeln anspannen, indem er versuchte, seine abwesenden Arme oder Hände zu bewegen. Seine Brust war zur Schnittstelle für einen Computer geworden, der eine Prothese steuern kann.

Jetzt bat ihn Mike McLoughlin, der leitende Forscher der Studie, zu einem Trainingscamp. Mit Elektroden nahmen die Forscher die Muskelbewegungen in Baughs Brust auf. Diese wurden von einem Computerprogramm in Bewegungen einer virtuellen Prothese umgesetzt, die Baugh auf einem Bildschirm sah. So konnte er dem Programm mitteilen, ob es seine Bewegungs-Vorstellungen korrekt erkannt hatte. „Ein Trainingscamp für das Programm genauso wie für den Patienten”, sagt McLoughlin. Nach nur zehn Tagen hatte das Programm genug gelernt: Baugh konnte nun allein durch die Kraft seiner Vorstellung die virtuelle Prothese nach seinen Wünschen bewegen.

Jetzt aber kam der entscheidende Schritt der Studie: Baugh sollte als erster Mensch eine High-End-Prothese mit zwei Armen, die Modular Prosthetic Limb (MPL), ausprobieren. Diese Prothese war in zehnjähriger Entwicklungarbeit am Johns Hopkins Applied Physics Laboratory geschaffen worden.

„Die Prothese ist revolutionär, weil sie die Fähigkeiten eines menschlichen Arms hat und sogar übertrifft”, sagt McLoughlin. „Mit den Zeigefingern kann der Patient zum Beispiel ein zehn Kilogramm schweres Gewicht heben. Mit unserer Prothese steht Patienten außerdem der gesamte Bewegungsspielraum normaler Gliedmaßen offen.” Seine MPL-Prothese bewege sich um Schultergelenk, Ellenbogen und Handgelenk. Dazu kämen zwei Hände mit je fünf Fingern.

Für Baugh war die neue Prothese nicht weniger als ein Erweckungserlebnis. „In dem Moment, in dem ich das System angezogen hatte, war ich in einer anderen Welt”, schwärmt er im Video der Studie. Nicht nur konnte er allein durch gedachte Handlungswünsche Objekte wie Becher oder Bälle greifen und sie woanders hinlegen. Auch war er in der Lage, beide Arme und Hände gleichzeitig zu nutzen. Ein Erlebnis, das er nur noch aus ferner Erinnerung kannte.

Die Prothetik macht mit Projekten wie der John Hopkins Studie riesige Schritte nach vorne. Das zeigte in diesem Jahr auch schon der Erfolg des DEKA-Arms. Die Prothese misst Muskelbewegung im Armstumpf. Jedes Zucken wird analysiert und der Roboter-Arm bewegt sich passend. Der Träger bekommt dadurch die Möglichkeit, Gabeln oder Schlüssel zu benutzen. Das System heißt auch Skywalker-Arm, weil es dem Robo-Arm des Helden aus Star Wars ähnelt. DEKA war auch das erste bionische System, das von der amerikanischen Food and Drug Administration für den Markt zugelassen wurde.

Einen fehlenden Arm zu ersetzen ist nur der erste Schritt. In einem zweiten forschen Wissenschaftler an Möglichkeiten, „Körper-Gefühle“ wieder zurückzubringen. Prothesen lernen zwar immer besser, Muskelaktivität oder Hirnströme in Bewegungen umzusetzen. Echtes Feedback liefern sie bisher aber nicht: Ist etwas, das ich anfasse weich, hart, schleimig, kalt oder warm?

Die MPL-Prothese vom Johns Hopkins Labor könnte bald solches Feedback liefern. Denn sie ist nicht nur mit Motoren, sondern auch mit insgesamt 109 Sensoren ausgestattet, die die Position ihrer Glieder und Gelenke im Raum, sowie den Druck und die Temperatur bei Berührung messen. „Nach einer TR-Operation könnten die Signale der Sensoren über die Brustschnittstelle zurück an das Gehirn des Patienten geschickt werden.”, erklärt McLoughlin. „In separaten Experimenten hat das bereits funktioniert.”

Andere Forschungsprojekte arbeiten an der Entwicklung einer „fühlenden” Haut. Forscher der Seoul National University und des Wearable Startups MC10 haben ein dehnbares Polymer entwickelt, das mit 400 Sensoren pro Quadratmillimeter gespickt ist. Ein Netz aus genauso dehnbaren Elektroden soll das Nervensystem simulieren. Wie Haut kann der „Stoff“ in Zukunft über Prothesen gespannt werden, um diese für den Träger vom Gefühl her in Arme mit Sensorik zu verwandeln.

Auch die Signale einer künstlichen Haut könnte eine Brust-Schnittstelle, wie die von Les Baugh, einmal an das Gehirn übertragen. Denn die sensorischen Nervenenden die vorher Berührungs-Signale von Arm und Hand Richtung Gehirn sendeten sind nun in die Haut der Brust eingewachsen und werden aktiviert, wenn man die Brustregion der Patienten berührt. So fühlte bereits eine der ersten Patientinnen einer TR-Operation, dass jemand ihren Arm, ihre Hand oder einen Finger berührte, wenn sie über die Haut der Brustschnittstelle strich.

Auch mit „fühlender” künstlicher Haut, sagen die Ärzte und Ingeniere am Johns Hopkins Labor, würden sie bereits experimentieren. Das würde nicht nur Feedback erlauben, sondern die Prothese auch gegen Korrosion schützen, etwa durch Regen. So wie bei einem menschlichen Arm auch.

So futuristisch der künstliche Arm von Luke Skywalker 1983 in der Star Wars Episode Rückkehr der Jedi-Ritter auch wirkte, die Entwicklungen der Prothetik könnten Amputationspatienten schon bald erlauben, wieder selbständig aus einer Tasse zu trinken, ihre Schuhe zu schnüren oder mit einem Laser-Schwert zu fuchteln.

27.12.2014 | 1844 Aufrufe

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