Das medizinische Wissen wächst, die Therapien werden immer besser: Werden
wir künftig gesund sterben? Und zu welchem Preis? Mit Beatrice Beck Schimmer,
Flurin Condrau und Ralph Kunz diskutierten Thomas Gull und Roger Nickl.

«Medizin wurzelt in der Religion» – Theologe Ralph Kunz, Medizinhistoriker Flurin Condrau und Anästhesistin Beatrice Beck Schimmer (von links) im Gespräch.

Die Wissenschaft weiss immer mehr über Krankheiten und entwickelt laufend neue, wirkungsvollere
Therapien. Frau Beck Schimmer, Sie sind Ärztin: Werden wir künftig gesund sterben?


Beatrice Beck Schimmer: Aus Sicht der Forschung werden wir wahrscheinlich gesünder sterben.
Das gilt zumindest für unsere Breitengrade, global gesehen trifft das aber nicht zu. Es gibt heute
zwar viele gute Therapiemöglichkeiten. Nur haben viele Menschen in Drittweltländern keinen
Zugang zu ihnen.


Herr Condrau, wie sieht das der Medizinhistoriker: Kann man überhaupt gesund sterben?


Flurin Condrau: Das ist eine gute Frage. Tatsache ist, dass die Lebenserwartung gestiegen ist. Es
gibt aber auch mehr Krankheitsfälle. Wir sind in diesem längeren Leben öfter krank. Man könnte also die Gegenthese stellen, dass wir zwar länger leben, aber immer kränker werden.

Wie sehen Sie das als Theologe, Herr Kunz: Werden wir künftig gesund sterben?


Kunz: Das Bild des gesunden Alterns ist eine Idealvorstellung. Der 120-Jährige, der nach einem
erfüllten und relativ beschwerdefreien Leben sterben darf – das ist eine Fantasie. Denn für jedes
Jahr guter Lebenszeit, das wir gewinnen, zahlen wir auch den Preis einer Phase mit intensiveren
Altersbeschwerden. Langlebigkeit ist ein hochkomplexes Phänomen. Demenzen werden künftig
zunehmen, aber auch die Multimorbidität, das gleichzeitige Nebeneinander von unterschiedlichen
Krankheiten.

Mit den scheinbar unbegrenzten technischen Möglichkeiten werden heute Erwartungen
geschürt: Von der Medizin werden Krankheit und Tod immer wieder als Probleme dargestellt,
die nicht mehr als unlösbar gelten. Sehen Sie das auch so?


Beck Schimmer: Nein, ganz und gar nicht. Der Tod ist sicher kein Problem, er ist die Vollendung
des Lebens. Jedes biologische System hat einen Anfang und ein Ende. Das gilt auch für das Menschenleben.
Da wird es trotz des unglaublichen Fortschritts nichts zu rütteln geben. Am Zürcher Universitätsspital (USZ) betreiben wir zwar hoch spezialisierte Medizin. Wir begleiten aber auch tagtäglich Menschen in den Tod.


Dennoch werden solche Versprechen gemacht. Das Ziel der Medizin ist es ja auch,
Krankheiten zu überwinden. Das scheint ihr nicht zu gelingen?


Condrau: Die Versprechungen in der Medizin sind alt und gehen, historisch betrachtet, eindeutig über die Wissenschaftlichkeit hinaus. Wenn wir etwa vergleichen, was Schul- und Alternativmedizin
versprechen, stellt man keine grossen Differenzen fest. Was sich vor allem unterscheidet,
ist der Weg, wie die Versprechen einzulösen sind. Die Evidenz etwa, die wissenschaftliche Überprüfbarkeit
von medizinischen Leistungen, ist eine ganz wichtige Errungenschaft der Medizin des 20. Jahrhunderts. Darin unterscheidet sie sich von anderen Anbietern auf dem Gesundheitsmarkt. Nicht was sie verspricht, macht den Unterschied aus, sondern dass sie auch Methoden zur Verfügung stellen will, um das Einhalten dieser
Versprechungen zu überprüfen.

Die Medizin, sagen Sie, hat schon immer mit Versprechungen und Idealen gearbeitet?

Condrau: Ein bekanntes Beispiel ist der Bakteriologe Robert Koch, der 1882 bekannt gegeben
hat, er hätte nicht nur das Tuberkulosebakterium identifiziert, sondern stünde auch kurz vor der
Entdeckung der wirksamen Behandlung gegen die Krankheit. Bis eine wirkungsvolle Therapie
entwickelt wurde, vergingen dann allerdings noch einmal 60 Jahre. Das heisst, ein späterer Nobelpreisträger
und führender Bakteriologe des späten 19. Jahrhunderts hat sich zu einer solchen
Äusserung hinreissen lassen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt wissen musste, dass er sein Versprechen
vermutlich nicht einhalten kann. Das ist ein guter Beleg dafür, dass die Medizin immer
schon mit Versprechungen operiert hat. Zentral ist, wie man diese Versprechungen bewertet und
welchen Glauben man ihnen schenkt. Geht es um eine Absichtserklärung oder um mehr oder
weniger realistische Ankündigungen? Diese Frage stellt sich immer wieder neu.

Frau Beck Schimmer, machen Sie als Forscherin auch Versprechungen, die Sie dann nicht halten können?


Beck Schimmer: Als Forscher fokussieren wir primär auf ein Projekt, an dem wir arbeiten, und auf
dessen Resultate. Versprechungen, die sich an Patienten richten, sind weit davon entfernt. Wer
sich mit Grundlagenforschung beschäftigt, weiss auch, dass viele Experimente scheitern oder man
nicht die Resultate erzielt, die man sich erhofft. Es ist alles nicht ganz so einfach. Die Biologie funktioniert
viel komplexer, als wir uns vorstellen.

Wie nehmen Sie das Schüren von Erwartungen seitens der Medizin wahr, Herr Kunz?


Kunz: Ich würde da gerne historisch argumentieren. Die Medizin wurzelt letztlich in der Religion.
Und Versprechungen sind deren Kerngeschäft. Die meisten dieser Versprechungen lassen
sich nicht verifizieren oder falsifizieren, sondern sie sind per Definition Glaubenssache. Die Absicht,
mit Hilfe der Medizin den Tod überwinden zu wollen, ist ein Hinweis auf diese religiösen
Wurzeln. Diese Vorstellung verbindet sich mit anderen religiösen Motiven: etwa der Frucht des
ewigen Lebens oder dem Jungbrunnen. Die Versprechungen, die die Medizin heute macht, werden
auch durch althergebrachte Bilder genährt. Da tut sich für die Patienten ein Bereich von Hoffnungen
auf, der nicht so genau bestimmbar ist.

Beck Schimmer: Hoffnung ist vielleicht auch als Teil eines Versprechens etwas ganz Wesentliches.
Denn wenn der Patient keine Hoffnung mehr hat, gibt er sich in der Regel auch auf. Das kann man
sehr gut beobachten, wenn man als Arzt schwer kranke Patienten betreut.

Früher starben die Menschen an Infekten, heute ist es der Krebs, von dem in der westlichen
Welt jeder Dritte im Lauf seines Lebens betroffen ist. Ist es eine Wunschvorstellung, wenn wir glauben, schwere Krankheiten jemals besiegen zu können?


Condrau: Zuerst ist einmal fraglich, ob die Medizin tatsächlich dafür verantwortlich ist, dass
sich unsere Lebenserwartung in den letzten 200 Jahren so drastisch erhöht hat. Die Evidenz spricht
dagegen. Die Medizin hat zwischen 1800 und 1950 zwar einzelne therapeutische Erfolge gefeiert,
diese Errungenschaften haben das Leben aber nicht entscheidend verlängert. Die verlängerte
Lebensdauer ist vielmehr die Folge eines erhöhten Lebensstandards. Wenn wir in die Zukunft schauen,
müsste sich deshalb unser Lebensstandard noch einmal ungefähr so verbessern, wie dies im
letzten Jahrhundert geschehen ist. Das halte ich allerdings für sehr unwahrscheinlich. Das bedeutet:
Die Diskussion über die Leistungen der Medizin dreht sich heute nicht mehr primär um Fragen
der Lebensverlängerung, sondern es geht noch um andere Themen – etwa um Lebensqualität
und Lebensstil, Gesundheit, Konsum, Spiritualität und Religion.

Können Sie dennoch etwas zur Überwindung von schweren Krankheiten sagen, Frau Beck
Schimmer? Machen wir uns etwas vor, wenn wir glauben, schwere Krankheiten heilen zu können?


Beck Schimmer: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich würde sie für mich mit einem Ja beantworten.
Wir werden mit Sicherheit schwere Krankheiten besser bekämpfen können. Dass es
uns gelingt, Krankheiten, wie etwa den Krebs, ganz auszulöschen, daran glaube ich nicht.
Zudem werden wahrscheinlich immer wieder uns noch nicht bekannte Krankheiten auftauchen,
mit denen wir uns beschäftigen müssen.


Demenzen werden im Mittelalter kaum ein Thema gewesen sein. Ist das so, Herr Condrau?


Condrau: Nein, das glaube ich nicht. Zu Unterstellen, im Mittelalter sei niemand alt geworden,
ist jedenfalls ein Verkennen der demografischen Realität. Auch im Mittelalter sind Menschen alt
geworden. Und es hat vielleicht auch Formen von Demenz gegeben, die sich in einem spezifischen Verhalten ausgedrückt haben. Nur hat das damals noch niemanden sonderlich interessiert.

Mit dem Altern verbunden häufen sich die schweren Krankheiten wie Alzheimer oder Krebs. Sind sie der Preis, den wir für die gestiegene Lebenserwartung bezahlen müssen?


Beck Schimmer: Ja, absolut. Ein Patient, der zehn Jahre länger lebt, kann in dieser Zeit zum Beispiel
einen Tumor entwickeln. Im Alter verändert sich die Physiologie. Die biologischen Prozesse laufen
weniger schnell und effizient ab, entsprechend auch die Abwehrmechanismen.

Das heisst, wir werden nicht gesund alt, sondern kränker älter?


Kunz: Nicht zwingend. Das ist das knifflige an solchen Durchschnittsaussagen. Es gibt sie tatsächlich,
die fitten Grosseltern, die gesünder sind als der Vierzigjährige, der in der Rushhour des
Lebens keine Zeit für den Sport mehr hat. Heute gibt es viele Beispiele für ein gelingendes Alter.
Wenn ich meine Eltern mit meinen Grosseltern vergleiche, so altern diese beiden Generationen
ganz unterschiedlich. Meine Grossmutter war mit 72 schon uralt. Meine Tante ist heute 84 und hat
immer noch das Gefühl, sie sei ein Springinsfeld.

Was sind die Gründe dafür?


Kunz: Das hat mit einer veränderten mentalen Einstellung zu Gesundheit und Alter zu tun. Eine
Wahrnehmungsverschiebung gibt es übrigens auch in der Medizin – nämlich die Tendenz, den
Menschen ganzheitlicher zu betrachten. Wenn man dies tut, sieht die Multimorbidität, ein Leben
im Altersheim oder im Rollstuhl plötzlich anders aus. Das ist dann nicht einfach eine Katastrophe sondern es gibt auch in dieser Situation noch sehr viel Lebenswertes. Aus gerontologischen Studien
weiss man, dass die Lebenszufriedenheit im hohen Alter auch bei multimorbiden Menschen
erstaunlich hoch ist. Deshalb finde ich es etwas problematisch, vom hohen Preis der steigenden
Lebenserwartung zu sprechen. Die subjektive Gesundheit, das Wohlbefinden, und der objektive
Gesundheitsstatus sind zwei ganz verschiedene Dinge.

Beck Schimmer: Das zeigt sich auch in der Praxis. In der Diagnostik werden bei Patienten objektiv
gesehen pathologische Werte im Blut festgestellt oder aber pathologische Befunde über die Bildgebung
erhoben. Es ist jedoch damit nicht möglich, eine Aussage über den subjektiven Schweregrad
des Leidens beim Patienten zu machen.

Condrau: Ein Sprichwort sagt

14.01.2015 | 13350 Aufrufe

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