Die Weltbevölkerung wächst rasant – und damit schlägt die Stunde der Apokalyptiker. Ängste vor Überbevölkerung und dem Fremden machen die Runde. Aber das ist absurd.

In 35 Jahren, 2050, wenn in Deutschland die Zwanzigjährigen von heute allmählich prüfen, ob Rente und private Vorsorge für ein auskömmliches Leben im Alter reichen, werden 9,7 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Am Ende des Jahrhunderts sind es 11,2 Milliarden – gegenüber 7,3 Milliarden heute. Das Wachstum geht fast ausschließlich auf Entwicklungsländer zurück, vor allem auf Länder in Afrika südlich der Sahara.

 

 

Diese Zahlen nennen die Bevölkerungswissenschaftler der Vereinten Nationen in ihrer jüngsten „Projektion“. Gegenüber der Projektion von 2013 rechnen sie jetzt mit 170 Millionen mehr Menschen, weil die Fertilitätsrate, die Zahl der Kinder je Frau, nicht so schnell sinkt, wie sie es noch vor zwei Jahren angenommen hatten. 170 Millionen – das ist gut zweimal Deutschland, also nicht besonders viel. Die Nachricht stieß dennoch weithin auf das Echo, der Weltuntergang sei spätestens jetzt unausweichlich.

 

Wäre die Welt ein Dorf mit 100 Einwohnern, lebten darin sechzig Asiaten.

Dass Bevölkerungswissenschaftler gern in die Rolle der Apokalyptiker gedrängt werden, hat mit alten Ängsten zu tun. Mutter Erde könne die vielen Menschen nicht mehr nähren. Mord und Totschlag seien unvermeidlich im Kampf um die Ressourcen, um saubere Luft und Wasser und Land. Kommen dann noch aktuelle Krisen hinzu – Banken, Terror, Euro, Ukraine –, verdüstert sich das Bild von der Zukunft vollends. Nicht zufällig kämpfen in Hollywoods neuen Science-Fiction-Filmen die Helden nach einer Menschheitskatastrophe ums Überleben. Die alten Ängste suchen sich alte Begriffe. Der Zuwachs an Menschenkindern heißt wieder „Bevölkerungsbombe“ oder „Bevölkerungsexplosion“. Von „Überbevölkerung“ ist wieder die Rede, als sei ein Teil der Menschheit überflüssig, als gehe von ihm eine tödliche Gefahr aus.

 

*pfui*s haben Bevölkerungswissenschaften diskreditiert

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Bevölkerungswissenschaft in Deutschland lange ein Schattendasein geführt, weil die *pfui*s eugenisch-rassistisch Schindluder mit ihr getrieben hatten. Noch in den achtziger Jahren erschien sie dann wie die Enklave einiger liebenswürdiger Dritte-Welt-Freunde und fristete in der Öffentlichkeit ein Exotendasein auf den bunten Seiten der Zeitungen. Das änderte sich bald darauf, als in den Blick geriet, was schrumpfende und alternde Gesellschaften zu gewärtigen haben, in denen je Frau nur noch 1,4 Kinder geboren werden und der Generationenvertrag ins Wanken gerät.

Nun steht diese schrumpfende und alternde Welt in Europa auch noch vor einer Flüchtlingskrise von mutmaßlich nie gekanntem Ausmaß. Das steigert die Ängste vielerorts ins Absurde. Afrika ante portas – eine ganze Generation junger Schwarzer nehme den greisen weißen Kontinent jetzt unter die Füße. Dass viele Flüchtlinge aus anderen Weltgegenden kommen, aus Afghanistan, Syrien und vom Balkan, dass auch die weitaus meisten Afrikaner vor Krieg und Verfolgung fliehen, ist zwar offenkundig. Aber nicht nur bei den Fremdenfeinden hat sich das Bild von einer „Überschwemmung“ eingenistet, als handele es sich um eine Naturkatastrophe, als suchten sich die „Ströme“ der viel zu vielen Menschen unaufhaltsam ihren Weg noch in das letzte Idyll. Da wird die Flüchtlingsfrage verquickt mit falsch verstandener Demographie. Ob die Länder Europas mit ihren 738 Millionen Menschen es wirtschaftlich und kulturell verkraften, in den kommenden Jahren viele Millionen Flüchtlinge aufzunehmen, wird sich zeigen. Mit dem Wachstum der Weltbevölkerung hat das aber nichts zu tun.

Die Arbeit der Bevölkerungswissenschaftler wird nicht selten abgewertet mit dem Hinweis, Prognosen über so lange Zeiträume seien doch nicht möglich und unseriös. Aber dass im Jahr 2060 jeder dritte Einwohner Deutschlands 65 Jahre oder älter sein wird, ist kein Blick in die Glaskugel, sondern eine Projektion, die sich aus den vorliegenden Daten zwangsläufig ergibt.

 

Grund zur Freude

Die Stiftung Weltbevölkerung in Hannover, eine rührige private Entwicklungsorganisation, macht die komplizierten Berechnungen der Wissenschaftler in einer kleinen Grafik fasslich. Wäre die Welt ein Dorf mit hundert Einwohnern, dann wären von ihnen heute zehn Europäer, 15 Afrikaner und sechzig Asiaten. Im Jahr 2050 hätte das Dorf schon 134 Einwohner, noch immer wären zehn von ihnen Europäer, aber mittlerweile gäbe es 33 Afrikaner und 73 Asiaten. Das sieht aus wie ein Zahlenspielchen, aber so wird sie sein, die Welt in 35 Jahren – mal abgesehen davon, dass zwei Drittel der Menschen dann nicht in einem Dorf, sondern in der Stadt leben.

Was vor allem zu tun ist, um das Wachstum der Weltbevölkerung weiter zu bremsen, damit Armut zu verringern und Entwicklung zu fördern, steht im jüngsten Weltbevölkerungsbericht der Vereinten Nationen. Die 1,8 Milliarden junger Leute müssen im Mittelpunkt der Anstrengungen stehen, vor allem Mädchen und junge Frauen. Noch immer werden jedes Jahr mehr als siebzig Millionen Frauen ungewollt schwanger, noch immer sterben jeden Tag 800 Frauen bei der Geburt. Wenn sie selbst bestimmen können, wann sie Kinder haben wollen und wie viele, nähert sich das Problem der Lösung. Während der drei Minuten für die Lektüre dieser Zeilen sind auf der Welt wieder 478 Kinder geboren worden. Das sollte ein Grund zur Freude sein, nicht zur Angst.

 

Source

Autor: Axel Wermelskirchen, Redakteur im Ressort „Deutschland und die Welt“.

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/bevoelkerungswachstum-keine-angst-vor-der-apokalypse-13750871.html

31.08.2015 | 16299 Aufrufe

Kommentare

Avatar
Sicherheitscode