Zwei unkonventionelle ETH-Professoren. Sie erforschen die Armenviertel der Welt und finden dort kreative Kräfte. Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner sind keine klassischen Architekten.
Vibrierende Metropolen wie Marrakesch, Mumbai und Caracas sind ihre städtischen Grosslabors. In diesen farbigen, lauten und gegensätzlichen Zentren betreiben sie Forschung. Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner sind keine klassischen Architekten, ihr Interesse gilt den «informellen Siedlungen». Der neutrale wissenschaftliche Begriff steht für Elendsviertel aller Art, die nicht auf den offiziellen Stadtplänen aufgeführt sind.
Sie fordern Architekten und Städtebauer heraus, Position zu beziehen, wie der Städtebau in Megacities aussehen soll: ETH-Professoren Alfredo Brillembourg (links) und Hubert Klumbner im ETH-Hauptgebäude. Bild: Thomas Egli
Slums in Asien, Favelas in Brasilien oder Townships im südlichen Afrika funktionieren nach andern Gesetzmässigkeiten. «Unkontrolliert, manchmal chaotisch, aber kreativ und zukunftsorientiert», sagen beide unisono. Herkömmlichen Städtebau betrachten sie als «gefrorene Politik». In der urbanen Struktur hierzulande sei die gesamte politische Vergangenheit statisch festgehalten. Wenn wir den «Aggregatzustand» ändern, die «Baustruktur also aufkochen» würden, wäre urbaner Wandel wieder möglich. «Allerdings mit andern Prioritäten», meint Klumpner. Mit weniger Prestigebauten, dafür mehr Gebäuden, wo die gesellschaftliche Bedeutung wichtiger ist als formale Ästhetik.
Ambiente wie auf einem marokkanischen Markt: «Armenviertel sind unkontrolliert, manchmal chaotisch, aber kreativ und zukunftsorientiert», sagen die ETH-Professoren. Bild: Thomas Egli
Brillembourg, Venezolaner und US-Bürger, und der Österreicher Klumpner führen seit 2010 an der ETH Zürich gemeinsam einen Lehrstuhl für Architektur und Städtebau. Die Professur heisst «Urban Think Tank» und engagiert sich für die überfüllten Armensiedlungen der Grossstädte. «Eine enorme Herausforderung», sagt Brillembourg. Gemäss Statistik der UNO leben heute 900 Millionen Menschen in Slums, ein Achtel der Weltbevölkerung. In den kommenden Jahrzehnten werden Hunderte von Millionen Menschen in bereits übervolle Städte ziehen.
Grosse Herausforderung: Wie lässt sich der explodierende Verkehr nachhaltig in die Stadtplanung integrieren? Bild: Thomas Egli
Preisgekrönte Konzepte
Die Referenzliste der beiden ETH-Professoren ist eindrücklich. Herausragende Projekte sind eine Gondelbahn in Caracas, die ins öffentliche Transportnetz der venezolanischen Hauptstadt eingebunden ist und die weiträumigen, schwer zugänglichen Elendsviertel (Barrios) erschliesst. Für Aufsehen sorgte auch der Torre David, ein 48-stöckiger Turm ebenfalls in Caracas. Die Bauruine aus der Finanzkrise beherbergt 750 Familien, die hier ohne formelle Genehmigung leben. Brillembourg und Klumpner haben mit ihrem Team diese «vertikale Gemeinschaft» untersucht und architektonische Sanierungsprojekte vorgeschlagen. Dafür erhielt «Urban Think Tank» an der Architekturbiennale in Venedig 2012 den Goldenen Löwen.
Die ETH-Professoren erhielten viele Auszeichnungen, aber manche Projekte blieben Versprechungen auf dem Papier. Bild: Thomas Egli
Für den Plan einer Musikschule in Paraisópolis, der grössten Favela in der brasilianischen Metropole São Paulo, hat das Professorenduo mehrere hoch dotierte Preise von der Holcim Foundation erhalten. Bei diesem Ökobau wirkten die ansässige Bevölkerung und lokale Fachleute mit. Ein zweistöckiges Tiefpreis-Modellhaus für Südafrikas Townships stellten die Architekten letztes Jahr in einer Zürcher Galerie aus. Weitere Projekte verfolgt «Urban Think Tank» in vielen andern Städten des Globalen Südens, neuerdings auch in China.
In den Enthusiasmus mischt sich aber auch Enttäuschung, der professorale Eifer bekommt manchmal Dämpfer. Schöne Versprechungen auf Papier und Pixeln genügten nicht, werfen Kritiker vor. Aus der Forschung sollten ja nicht bloss eindrückliche Pläne, tolle Modelle und grandiose Computersimulationen resultieren. In der Favela Paraisópolis beispielsweise möchten die Jungen mit Musik- und Ballettunterricht eine Perspektive erhalten, eine hehre Absicht mit dem Slogan «Kultur statt Drogen». Ballettunterricht und Musikausbildung finden aber immer noch in einer Baracke unter prekären räumlichen Verhältnissen statt.
Wurden ehrenvolle Auszeichnungen folglich den Architekten für nie verwirklichte Vorhaben verliehen? Mit diesem Vorwurf konfrontiert, verweisen die Professoren auf die «energiefressende Politik» in den südlichen Ländern, besonders in jungen Demokratien wie Brasilien und Südafrika, wo politische Zänkereien, Korruption und Finanznot vorherrschten.
«Die informelle Verstädterung ist eng verknüpft mit der fortschreitenden Globalisierung», sagt Brillembourg. So werde beispielsweise ein T-Shirt aus Malaysia in den Armenvierteln von Kuala Lumpur hergestellt und an der Zürcher Bahnhofstrasse verkauft. Bei den Slums hätten sowohl Politiker als auch Banken und nicht zuletzt die Architekten bisher versagt, meinen die Professoren selbstkritisch. Es würden keine geeigneten Produkte wie Häuser oder Kredite angeboten, die an soziale und ökonomische Lebensverhältnisse angepasst sind.
Die Ausstellung stellt Schlüsselfragen, denen sich Stadtplaner und Architekten bei Projekten stellen müssen. Bild: Thomas Egli
Gesucht: Schweizer Stadtlabors
Im Städtebau gelte es daher, entsprechendes Wissen zu erzeugen. Auch in der Schweiz, um es nachher weltweit anwenden zu können. Dazu brauche es bei uns urbane Labors. Solche Experimentierstationen könnten auf Industriebrachen und in alten Fabriken entstehen, wo die Menschen in Planung, Bau und Betrieb einbezogen werden. «Wir sollten uns diesen Luxus leisten», sagt Hubert Klumpner. Die wirtschaftliche Sicherheit der Schweiz sei trügerisch. Es drohe der Verlust der Innovationsfähigkeit und damit des Wohlstands. «Caracas ist überall», bringt es Alfredo Brillembourg auf den Punkt.
Mit dem Export von Expertise in Urban Design könne die Schweiz nicht nur wirtschaftlich profitieren, sondern auch einen humanitären Beitrag leisten. Bereits gebe es Vorzeigeorte, wo neue urbane Wohnformen gemeinschaftlich ausprobiert würden, beispielsweise die «Kalkbreite» im Zürcher Kreis 4 mit 250 Bewohnern und ebenso vielen Arbeitsplätzen. Doch es brauche unzählige solche Stätten im ganzen Land, in denen Läden, Beizen, Werkstätten, Künstlerateliers und andere Start-up-Unternehmen gedeihen können. Hier lasse sich bestens über die Zukunft nachdenken. Ein Symbol des kreativen Unternehmertums sei der Freitag-Turm. Der Container-Wolkenkratzer der innovativen Fabrikanten, bekannt für ihre kultischen Taschen aus Altmaterial, erscheine öfter auf Fotos in Reiseführern über Zürich als der Prime Tower.
Liberalisierte Bauvorschriften
Klumpner und Brillembourg als Weltbürger verlangen von der Schweizer Bevölkerung mehr Offenheit für Neues. Raus aus der Komfortzone, das bringe mehr Kreativität. Im Weiteren müssten Zonenplanung und Bauvorschriften für ausgewählte städtische Experimentiergebiete liberalisiert werden, um einen grösseren Spielraum für neue Wohn- und Arbeitsformen zu schaffen. Auch sollten Unterschiede als Chance betrachtet werden. Gerade die anhaltende Einwanderung von Flüchtlingen und Expats aus andern Kulturkreisen sei ein Gewinn.
Am Lehrstuhl «Urban Think Tank» der ETH Zürich forschen und lehren derzeit 24 Architekten, Städteplaner und andere Fachleute. Das Team konzentriert sich auf die informelle Stadtentwicklung und will damit das Leben urbaner Gemeinschaften verbessern – durch Bauprojekte, Forschung, Lehre, Filme und Publikationen. Derzeit profitieren rund 230 Studierende direkt davon. Künftig werden sie das hier erworbene Wissen in die Städte rund um den Globus tragen.
Quelle
http://www.tagesanzeiger.ch/wissen/technik/caracas-ist-ueberall/story/13497226