Was ist das Kino? Seit hundert Jahren suchen wir nach einer Antwort auf diese Frage, und jedes Mal, wenn jemand glaubt, eine gefunden zu haben, ist sie schon wieder veraltet. Und wenn es schon so schwer ist, dem Kino hinterherzudenken, wie viel schwerer ist es dann, dem Kino vorauszudenken?

Vielleicht muss man die Sache vom Kopf auf die Füße stellen. Vielleicht ist es längst schon das Kino, das uns vorausdenkt. Sicher - auf vielen Feldern hat es heute die Vorherrschaft verloren. Die Computerspiel-Branche macht größeren Umsatz, das Fernsehen reagiert direkter in den Bilderkreisläufen, das Internet verbindet uns schneller im globalen Dorf. Das Kino produziert seine Bilder nicht mehr, und es "behält" sie auch nicht mehr. Bald wird es keine materielle Trägersubstanz mehr besitzen, die man "Film" nennt; keinen Aufnahmeapparat, der einen menschlichen Blick imitiert; keine lineare Erzählweise, wie wir sie gewöhnt sind. Aber was wir noch als Krise wahrnehmen, ist längst schon vom Begleiter zum Wesen der Institution geworden: Das Kino ist nichts Anderes als die Erscheinungsform von audiovisuellen Reaktionen auf innere und äußere Krisen eines Systems, von dem nicht mehr zu sagen ist, was es abbildet oder repräsentiert. An die Stelle der jeweils "neuen Welle" ist das Meta-Kino getreten. Bilder-Denken-Bilder. Das Kino spielt nicht nur eine Rolle in der "Verbildlichung" der Wahrnehmung im letzten Jahrhundert. Es hat einen neuen Bereich ergriffen, das "Bilder-Denken".

Das Bild hat den begrifflichen Diskurs nicht nur "abgelöst", sondern auch überschritten: Es "denkt" dort, wo unser Text-Denken nicht hingelangt. Godard, Pasolini, Lynch oder Kubrick haben dieses "Denken in Bildern" vorgemacht, natürlich auf sehr unterschiedliche Art. Heute wird uns aber klar, dass das Kino nicht nur von seinen großen Bilderdenkern gedacht wird. Es denkt auch allein und an überraschenden Orten seiner Entwicklung. Entgrenzung und Selbstreflexion sind die einander widersprechenden Antriebe für das Kino auf dem Weg in die Zukunft. Der Kreislauf von Angst und Lust beschleunigt sich dabei. Die Furcht vor dem Bild entsteht vielleicht auch, weil es Ästhetik und Moral nie vollständig zur Deckung bringt. Ein Palast kann, wie Kant gesagt hat, als schön behandelt werden, unabhängig davon, welche Gewalt und welche Ausbeutung nötig waren, ihn zu errichten, und blitzartig kam dieser Widerspruch wieder in den Fernsehbildern vom 11. September: Das Schrecklichste war in gewisser Weise auch schön. Und dafür gab es immer wieder nur ein Wort: Kino. Auf der Suche nach einer Moral der Bilder wurde so vieles um das Kino "undenkbar", transzendental. Doch erst die neuere Philosophie macht sich das Bilder-Denken immerhin zum Thema. Eine der überraschendsten Wiedergeburten erlebt das Kino daher in den philosophischen Seminaren.

Technik

Dass das Kino dorthin sehen und eben denken kann, wohin die überkommenen Diskurse nicht reichen, ist nicht nur eine Sache seiner Technik, sondern auch die seiner sozialen Situation: Es ist zugleich "der ganze Stolz" einer technifizierten Gesellschaft, der sie als Leistungsschau dient, einschließlich sehr unangenehmer Nebenerscheinungen wie der Parallelentwicklung von Krieg und Kino. Es ist die Welt-Ware, die schneller als jede andere reale, symbolische und imaginäre Grenzen überschreitet, im guten und bösen, aber es ist zugleich das "verräterischste" Medium, eine Form des kollektiven Unbewussten. Herrschaftskritik und Herrschaftssicherung in einem. In Bildern können wir über Dinge denken, die dem Diskurs "verboten" sind: Was kommt nach dem Kapitalismus? Was kommt nach dem Menschen? Wie funktioniert die Macht, im Körper, im Geld, in der Sprache? Was, wenn das "abendländische Denken" ein falsches wäre? Welches sind die virtuellen und realen Architekturen, die unseren Alltag und die Arbeit bestimmen? Im Bilder-Denken des Kinos, das kindlich naiv und hochkomplex zugleich sein kann, haben wir bereits Antworten auf diese Fragen. Aber wir kennen sie nicht, weil wir auch das Kino nicht wirklich kennen.

Darin gleicht es der Technik: eine Schöpfung, die den Schöpfern bis zu einem gewissen Grad immer fremd bleiben muss. Technisch gesehen besteht die Zukunft aus einer Form der virtual cinematography, die aus immer neuen Kombinationen von digitaler und analoger Technik entsteht. Das bedeutet auch eine Veränderung der "Filmsprache". Ein Film muss keine "endgültige" Form mehr haben, ein "Schnitt" muss kein materielles Gegenüber von Bildern mehr bedeuten, und eine Bewegung muss nicht mehr Abbildung einer realen Bewegung sein. Der Kino-Künstler der Zukunft kann über Instrumente verfügen, die einerseits so frei sind wie der Pinsel eines Malers und andererseits so präzis wie das Mikroskop eines Wissenschaftlers. Ganz entschieden verändert sich auch die Rolle des "Zuschauers". Er wird zu einem Subjekt in einer offenen Erzählung, die eher aus seinem Inneren als von außen vor seine Augen kommt. Anders als die anderen Medien bildet das Kino mehr denn je einen Konsumenten-Markt:

100 Millionen

Die Bild-Zeitung kann uns alles erzählen; sie ist Teil der Ordnung unseres Alltags; das Kino dagegen muss alles tun, uns in Bewegung zu setzen. Wir als Zuschauer verkünden unentwegt Todesurteile über 100-Millionen-Projekte. Umso totaler ist unsere Hingabe an die Markt-Gewinner. Wir genießen im Kino auch unsere Macht - und dann umso mehr die Ohnmacht. Bei diesem Kampf um das Subjekt reichern sich beide Seiten mit einem enormen "Wissen" an: In der totalen Subjektmaschine Kino darf ich nicht weniger verlangen, als "neu geboren" zu werden. Und zwar in einem Raum mit eigenen Gesetzen. Die Virtualisierung des Raumes beginnt wie eine begehbare Psychotektur; die Stadt wird immer Kino-hafter, und das Kino wird immer mehr zur virtuellen Stadt. Das Kino ist dabei Teil der neobarocken Scheinarchitekturen, der wuchernd stürzenden Formen und Verspiegelungen, die auf Erden eine Fülle imitieren, die dem Himmel nicht mehr zugetraut wird. Aber nicht nur das Philosophische und das Moralische löst sich im Visuellen auf und wird in ihm neu formuliert, sondern auch das Religiöse.

Hoffnungen

Filmische Kosmologien wie "Star Wars" oder "Alien" simulieren perfekte religiöse Systeme, entwickeln messianische Hoffnungen. Das Kino der Zukunft ist eine Bilder-Religion für einen leeren Himmel. Damit das Kino seinen Abbildcharakter verliert, wird es paradoxerweise beides: perfekte Simulation in einer Simulationswelt und Kommentar und Kritik zum Simulacron. Es hilft nur Kino, wo Simulation herrscht. Jenseits des iconic turn löst sich die Angst vor dem Bild in eine messianische Erwartung des transzendentalen Bildes auf. Sie entsteht aus dem apokalyptischen Gefühl einer totalen Herrschaft der Bilder und der ebenso totalen Leere des off. Möglicherweise hat das Geschehen des 11. September zu einem zweiten iconic turn geführt. Das Katastrophenbild, das wie die Erfüllung der Kinoträume in Echtzeit erscheinen musste, übertrug dem Medium zugleich das Bewusstsein seiner Macht und eine neue Art der Verantwortung. Wir hätten es gerne, dass das Kino uns wieder Bildergeschichten erzählt, so wie früher. Aber wir wissen, dass das nicht mehr möglich ist. Hat das Kino also eine Zukunft? Nein, aber es hat ungefähr ein halbes Dutzend davon. Und jede widerspricht den anderen.

20.11.2014 | 8700 Aufrufe

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