Gleich nach dem Frühstück verzieht sich der 14-Jährige in sein Zimmer. Er ist noch im Schlafanzug, setzt sich vor den Computer und wird diesen Platz in den nächsten fünf Stunden nicht verlassen. Draußen ist es schon am Vormittag 28 Grad warm, Bolzplatz und Schwimmbad sind nicht weit. Der Junge sitzt vor seinem Computer und spielt Minecraft. Das ist zumindest das Spiel, das seine Eltern kennen. Was er sonst noch am PC treibt? Keine Ahnung. "Das ist doch nicht normal, der ist süchtig", sagt die Mutter. "Er trifft keine Freunde, verabredet sich nicht, er geht nicht schwimmen, ist nicht im Sportverein. Nichts." Der Vater schweigt eine Weile, dann sagt er: "Das ist eine Phase, das geht vorbei."

Eine Besucherin der Gamescom testet ein Display zum Aufsetzen. Bei der fünftägigen Spiele-Messe in Köln präsentierten 800 Aussteller ihre Neuheiten. (Foto: Martin Meissner/AP)

  • Jugendliche gebrauchen zwar seltener illegale Substanzen, Verhaltenssüchte wie die Computerspielsucht nehmen aber zu.
  • Experten empfehlen Eltern, beim Zocken zeitliche Obergrenzen zu vereinbaren.
  • Es gibt auch erste Therapieangebote für Computerspielsucht. Vor allem junge Männer suchen dort Hilfe.

Wie soll man das Verhalten des Jugendlichen einordnen? Ist er in bedrohlichem Maße abhängig oder testet er Grenzen aus, gewinnt an Autonomie, folgt also ganz normalen Entwicklungsschritten? Viele Eltern verzweifeln an der Ausdauer und Einseitigkeit, mit der ihre Kinder den PC bearbeiten. Müssten sie nicht längst einschreiten und eine Beratungsstelle aufsuchen? "Die Isolation ist das Entscheidende, wenn es um Kriterien der Sucht geht", sagt Klaus Wölfling, der am Universitätsklinikum Mainz die Ambulanz für Spielsucht leitet. "Wenn Kontakte abgesagt und familiäre Pläne ständig torpediert werden, um am Computer spielen zu können, ist Vorsicht geboten. Regelmäßiger direkter Kontakt mit Menschen gehört zum Leben - und diesen sozialen Umgang muss man lernen und üben."

"Das Belohnungsgefühl nutzt sich ab. Für denselben Kick ist immer mehr Aufwand nötig"

Ein paar Stunden spielend vor dem PC zu verbringen, ist nicht gefährlich, da sind sich die Experten einig. Dass am Wochenende oder in den Ferien mehr Zeit damit verbracht wird, ist auch kein Problem. Das perfide an Computerspielen ist jedoch, dass sich das Spielverhalten selbst verstärkt. "Ein gewisses Level von Erfolgen oder Belohnungen will erzielt werden, so sind die Spiele aufgebaut", sagt Wölfling. "Aber das Belohnungsgefühl nutzt sich schnell ab, immer mehr Aufwand an Zeit ist nötig, um denselben Kick zu erreichen. Und dann explodieren irgendwann die Spielzeiten."

In der Mainzer Ambulanz suchen 500 bis 600 Menschen jedes Jahr Hilfe für ihren Umgang mit den verführerischen Spielen. Die Experten scheuen sich, eindeutige Bildschirmzeiten anzugeben, die als tolerabel oder schon als Zeichen der Sucht gelten können. Dennoch hat das Team aus Psychologen und Ärzten beobachtet, dass Menschen - meist Männer - die von sich aus kommen, weil sie ihr Problem nicht mehr bewältigen, wochentags im Durchschnitt acht Stunden mit PC-Spielen verbringen, am Wochenende sogar zwölf Stunden täglich. Der Altersgipfel für die exzessive Zockerei liegt bei 20 bis 25 Jahren - "das ist eine kritische Phase, wenn die Jungs ,Hotel Mama' verlassen und mit Studium oder Ausbildung beginnen", sagt Wölfling. Nimmt das Spiel vor dem Computer zu viel Raum ein, drohen manchmal die Exmatrikulation, der Verlust aller persönlichen Kontakte oder hohe Schulden.

Die jugendlichen Zöglinge, mit denen besorgte Eltern in die Mainzer Ambulanz kommen, verbringen im Mittel zwei bis drei Stunden täglich vor dem Computer, sonntags auch mal vier bis fünf. "Das ist meist nicht bedrohlich und keine Sucht, wenn das Sozialverhalten weiterhin intakt ist", sagt Wölfling. Überhaupt ginge es darum, wie weit Kontakte in der Familie und zu Freunden aufrechterhalten werden. "Waren die Kinder ein halbes Jahr nicht im Schwimmbad oder kommen nicht mehr zu gemeinsamen Mahlzeiten, würde ich mir Gedanken machen", sagt Wölfling. "Totale Vereinsamung oder Geldausgaben für Zukäufe innerhalb der Spielewelt sind auch ein Alarmzeichen." Manche Jugendliche hätten Schulden in vierstelliger Höhe, weil sie unbedingt ein weiteres Level oder spezielle Items für ihre Spiele wollten.

Zittern, Unruhe, Schlaflosigkeit - der Entzug ähnelt dem bei anderen Abhängigkeiten

Süchtige klagen über Entzugssymptome, die denen bei körperlicher Abhängigkeit verblüffend ähneln und mit Zittern, Schwitzen, Unruhe und Schlaflosigkeit einhergehen. Typisch ist die negative Stimmung, die Reizbarkeit - und die irrige Selbsteinschätzung, jederzeit aufhören zu können. "Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht der illegale Substanzkonsum zurück, aber die Verhaltenssüchte nehmen zu", sagt Wölfling.

Spiele am Computer generell zu verteufeln, erfasst den Kern des Problems nicht, auch wenn Zivilisationsskeptiker mit Warnungen vor der digitalen Verblödung viele Anhänger haben. "Auch Kinder, die emotional gut eingebunden sind, spielen gern am Computer, aber in zeitlichen Grenzen", sagt Karl Heinz Brisch, Leiter der Abteilung für Psychosomatik am Haunerschen Kinderspital der Universität München. "Das ist nicht bedrohlich, sondern vergleichbar mit den Kindern, die früher heimlich unter der Bettdecke weitergelesen haben, obwohl die Eltern ihnen das verboten hatten." Schwierig werde es hingegen, wenn Kinder vernachlässigt oder in emotionaler Kälte aufwachsen und am Computer Ersatzbindungen suchen.

Brisch hat beobachtet, dass Kinder, die stationär in die Psychosomatik kommen und vorher kaum von ihren Computer wegzubekommen waren, in der Klinik-Wohngruppe und im dortigen Kontakt mit anderen kaum noch das Bedürfnis nach einem PC-Spiel verspüren. "Letztlich sind alle Spiele vor dem Bildschirm ja sehr einsam", sagt der Psychosomatik-Arzt. "Wir sind nun mal soziale Wesen, die sich in Gemeinschaft wohler fühlen."

"Manchmal ist es unumgänglich, sich mit bestimmten Spielen oder Youtube-Helden zu beschäftigen"

Mediziner und Psychologen empfehlen, feste Zeiten von zwei, drei Stunden als Obergrenze zu bestimmen, und die dürfen auch nicht verhandelt werden. "Man sollte Kindern zudem klarmachen, welches Risikopotenzial die Spielerei hat und dass man aber auch versteht, wie attraktiv die Spiele sind", sagt Wölfling.

Nicht jeder Erwachsene hat Lust, in den Kosmos der Clan-Kriege, Rohstoff-Sammler und Kampftruppen einzutauchen. Es ist jedoch wichtig, sich mit der Lebenswelt der Kinder auseinanderzusetzen, weil man nur so mitfühlen und ihre Begeisterung oder Enttäuschung empathisch miterleben kann. "Manchmal ist es unumgänglich, sich mit bestimmten Spielen oder Youtube-Helden zu beschäftigen", sagt Wölfling. Die Spiele der Kinder zu kennen, schafft allein zwar noch keine Nähe. Trotzdem ist Karl Heinz Brisch überzeugt: "Letztlich ist die Qualität des emotionalen Kontakts entscheidend, ob sich eine Sucht mit soziopathischem Verhalten entwickelt - oder ob die Kinder trotzdem weiter an familiären Aktivitäten teilnehmen und bei schönstem Wetter von sich aus Fußball spielen und Freunde treffen wollen."

Source:

Von Werner Bartens

http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/kinder-am-bildschirm-da-hoert-der-spass-auf-1.2601349

11.08.2015 | 783 Aufrufe

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